Interview mit Melanie Backes
Melanie Backes ist Erzieherin, Waldorf- und Kleinkindpädagogin, Systemisch-psychologischer Coach und Ayurveda-Ernährungsberaterin.
Sie arbeitet in ihrer Praxis Blickwechsel in Weiterstadt (bei Darmstadt) mit Einzelpersonen, Paaren, Müttern, Vätern, Regenbogenfamilien, Adoptiv- und Pflegeeltern und Jugendlichen. Außerhalb ihrer Praxis leitet sie Kurse, Seminare, Workshops und bietet Coachings an in Kindertageseinrichtungen, Krippen, Schulen und anderen Institutionen.
Monika Reetz:
Liebe Melanie Backes! Mich interessiert Deine Arbeit sehr, insbesondere Deine Arbeit in den Kursen. Wie gestaltest Du diese?
Melanie Backes:
Neben Coaching und Beratung biete ich in meiner Praxis ganzheitliche Eltern-Kind-Kurse an. Diese sind für Eltern mit ihren Kindern ab 3 Monate bis ca. 2 Jahre geeignet und finden in Kleingruppen statt.
Mir war es schon immer ein großes Anliegen, die Kurse in Kleingruppen anzubieten, um dem kleinen Kind einen geschützten Raum mit viel Ruhe und Zeit für seine individuelle Entwicklung zu geben. Hier bekommen sie die Möglichkeit sich in einer kleinen Gruppe entspannt auszuprobieren, erste Kontakte mit anderen Kindern wahrzunehmen, ungestört zu spielen und dem eigenen Bewegungsimpuls zu folgen.
Wie reagieren diese noch recht jungen Kinder in Deinen Kursen?
Jedes Kind ist in seiner Entwicklung unterschiedlich und hat eine ganz individuelle Persönlichkeit. Während manche Kinder bereits nach kurzer Zeit im Kurs nach den Materialien greifen oder mutig und zielgerichtet die Bewegungselemente erkunden, verweilen andere noch ganz in ihrer Beobachtung und im Zuschauen. Sie erkunden mit ihren Augen den Raum, die neue Umgebung und den vertrauten Blick ihrer Mutter oder ihres Vaters. Manche von ihnen entdecken zunächst ihre kleinen Hände und erfreuen sich daran, wenn diese zusammenkommen und sich finden!
Gibt es für Dich eine Art »Leitmotiv« in dieser Arbeit?
Ein wunderbarer Satz, der mich schon viele Jahre in der Elternarbeit und auch in meinen Kursen begleitet und leitet, stammt von Emmi Pikler, einer ungarischen Kinderärztin: »Lass mir Zeit es selbst zu tun«. Dieser Satz hat mich damals, in meiner Ausbildung, sehr berührt und zum Nachdenken angeregt.
Wie erlebst Du die Eltern, auch mit Blick auf dieses Leitmotiv?
Oftmals erlebe ich Eltern verunsichert, weil ihnen gesagt wird, dass sich ihr Kind doch längst drehen, robben, krabbeln, frei sitzen oder alleine einschlafen müsste. Dies führt zu Verunsicherung der Eltern.
Es gibt heute eine Vielzahl von zielgerichteten Angeboten, welche sich an junge Eltern mit ihrem Kind richten. Es werden dort »Übungen« und »kindgerechte Spiele« vermittelt, sowie Tipps gegeben, wie und wodurch die Kinder optimal in der frühen Kindheit gefördert werden. Verstärkt wird dies in der heutigen Zeit auch durch die sozialen Medien, in denen es viele gut gemeinte Tipps gibt, die das Leben mit Kind einfacher, leichter und bequemer machen sollen. Nicht zu vergessen die »Frühe Förderung« – je früher desto besser!
Was genau siehst Du daran kritisch?
Oft stellte ich mir die Frage: Was passiert eigentlich hier und um wen geht es hierbei wirklich? Wenn man genau hinschaut geht es nicht um das kleine Kind oder Baby, sondern um den Erwachsenen. Der Erwachsene steht hier im Mittelpunkt, meint es durchaus gut und glaubt das Kind »fördern« oder auch »fordern« zu müssen (zielgerichtet), damit es diesen oder jenen Entwicklungsschritt vollzieht.
An dieser Stelle kann uns der Satz von Emmi Pikler bestärken, Vertrauen in uns und unser Kind zu haben, dass es selbst in der Lage ist seinen Entwicklungsschritt zu vollziehen. Nämlich genau dann, wenn es bereit dazu ist. Wenn es selbst die Ruhe, Zeit und die passende Umgebung bekommt, die es braucht um den nächsten Entwicklungsschritt selbst zu tun.
Worin bestärkst Du die Eltern in Deinen Kursen?
Eine Herzensangelegenheit ist für mich die Eltern in ihrer Rolle als Mutter oder Vater zu bestärken. Mit Eltern meine ich immer alle Elternteile – Mütter, Väter, gleichgeschlechtliche Paare, Pflege- und Adoptiv-, sowie Eineltern. Sie alle sind willkommen in meinen Kursen, Beratungen und Coachings.
Ich bestärke und ermutige sie darin, dass sie an sich selbst glauben, bereits alles in sich tragen und wissen, was gut für ihr Kind ist. Sie sind die Experten und wissen am allerbesten, was es braucht und was ergänzt werden muss.
Ich spreche hier von der Intuition, welche ganz natürlich in jedem Menschen angelegt ist, jedoch in der heutigen Zeit den Eltern sehr oft »abgesprochen« wird. Anstatt auf ihr Bauchgefühl zu achten, ihrer Wahrnehmung und Beobachtung zu vertrauen und zu folgen, werden ihnen die unterschiedlichsten Ratschläge, Videos, Trainings und Kurse gezeigt und angeboten. Hier entstehen oft sehr viele Unsicherheiten und auch Ängste, welche sich nicht selten auf das Kind und die Familiensituation übertragen, wenn sie nicht aufgelöst werden. In meinen Kursen vermittele ich den Eltern, wie es gelingen kann das Kind achtsam und wertfrei zu sehen, zu beobachten und ihm zu begegnen.
Wie gelingt Dir das?
Wir üben uns im Zuschauen. Dies fällt vielen heute gar nicht leicht, da wir in unserer schnelllebigen Welt gewohnt sind, schnell zu reagieren, zu handeln, zu sprechen, zu argumentieren, kommentieren und zu bewerten. Stille und Ruhe zu genießen, diese auszuhalten, wird immer seltener. Wir haben das Gefühl immer etwas tun zu müssen.
Gerade die Beobachtung des Kindes in seinen Bewegungen und seinem Verhalten, welche im Alltag oft viel zu kurz kommt, wird in meinen Kursen geschult. Denn in der Beobachtung lässt sich ganz viel erkennen und lesen, was sich im Kind ausspricht. Hierdurch bekommen die Eltern Selbstsicherheit und Vertrauen in ihrem Umgang und dem Handeln mit ihrem Kind.
Was ist Dir mit Blick auf die Kinder besonders wichtig?
Jedes Kind ist einzigartig – in seiner ganzen Entwicklung und Persönlichkeit!
Mir ist es ein großes Anliegen, dass wir als Erwachsene das Kind in seinem ganzen Wesen so sehen und betrachten wie es ist. Und das vollkommen wertfrei.
Besonders wichtig ist mir in meinen Kursen das freie Spiel des Kindes. Die Kinder können frei spielen, erkunden und sich ihrer Entwicklung entsprechend frei bewegen und ausprobieren – ohne dabei von außen gestört oder fremdbestimmt zu werden. Es gibt kein »Programm« bei dem das Kind mitmachen muss. Alles darf, nichts muss.
Auch ist mir die innere Haltung, welche wir als Erwachsene dem Kind gegenüber einnehmen besonders wichtig. Ich lege großen Wert auf einen achtsamen Umgang, sowie auf eine wertschätzende Kommunikation mit dem Kind, wie auch unter uns Erwachsenen. Häufig ist es so, dass die Eltern im Laufe eines Kurses eine Gemeinschaft gebildet haben, in der tiefes Vertrauen gewachsen ist. Hier können Themen angesprochen werden, welche manchmal sehr persönlich sind. Diese wertvolle Erfahrung ist durch den achtsamen Umgang und der Wertschätzung jedes Einzelnen möglich, wofür ich sehr dankbar bin.
Wir tauschen uns ja viel über das Thema Resilienz aus; würdest Du sagen, Du stärkst auch die Resilienz der Eltern?
Eine sehr gute Frage. Die Resilienz ist sehr wichtig und wir brauchen sie meiner Meinung nach heute mehr denn je. Wenn ich so darüber nachdenke, werden alle drei Säulen der Resilienz Akzeptanz, Zuversicht und Lösungsorientierung in meinen Kursen gestärkt.
Die Akzeptanz jedes Einzelnen ist die Grundvoraussetzung, damit ein positives Miteinander im Kurs stattfinden kann. Jeder ist willkommen so wie er ist. Dies gilt bei mir für alle Familienformen und Religionszugehörigkeiten.
Es kommt durchaus vor, dass nicht immer alle Eltern die gleiche Meinung zu einem Thema teilen, was den Austausch dann spannend und bereichernd macht. Wir akzeptieren uns in unserer Unterschiedlichkeit und lernen so, auch andere Sichtweisen kennenzulernen, was den bisherigen Blick erweitern und bereichern kann.
Ein weiterer Aspekt zum Thema Akzeptanz liegt darin, anzuerkennen, dass ich als Elternteil manche Dinge nicht ändern kann. Dies betrifft meistens Entwicklungsschritte bei den Kindern. Oft werden Eltern von Familienangehörigen, Freunden oder »Spielplatz-Eltern« angesprochen, dass ihr Kind doch schon längst laufen müsste. Oder sie fühlen sich unsicher, weil ihr Kind sich noch nicht selbstständig auf die Seite dreht, während andere gleichaltrige Kinder dies bereits tun.
Die Kunst liegt darin, die Gegebenheiten so, wie sie aktuell sind, zu akzeptieren, was für junge Eltern oft sehr schwer ist. Hier ermutigt sehr schön mein Leitsatz, den ich in meinen Kursen gerne zitiere. Während die Eltern ihre Kinder in der Kursstunde aufmerksam beobachten, entwickeln die Eltern bereits nach kurzer Zeit immer mehr Vertrauen in ihre eigene Intuition. Das Gefühl der Entspannung und Gelassenheit kann sich somit einstellen, was sich wiederum positiv auf die Bindung zum Kind und auf das Familiensystem auswirkt.
Meine Kurse bieten auch Raum für offene Fragen und Unsicherheiten. Hier ist es mir besonders wichtig, den Blick auf die Sache mit Zuversicht zu stärken. Es gibt verschiedene Wege und Möglichkeiten sich einer Herausforderung zu stellen und manchmal braucht es nur einen Blickwechsel um zu einer Lösung zu kommen.
Hier hilft und stärkt der Austausch unter den Eltern, die oftmals bereits ähnliche Erfahrungen gemacht haben und diese miteinander teilen können.
Positive Erfahrungen und verschiedene Lösungsmöglichkeiten werden aufgezeigt, ausgetauscht und mit meinem pädagogischen Fachwissen je nach Situation begleitet. Empathie und das Gefühl nicht alleine zu sein, helfen und stärken die Eltern in den Kursen und geben ihnen wieder neue Kraft, Vertrauen und Zuversicht.
Worauf hast Du bei der Gestaltung Deines, wie ich finde, sehr ansprechenden Raumes geachtet?
Bei der Gestaltung meines Raumes war mir besonders wichtig, dass er eine gewisse »Hülle« bietet. Es sollte ein Raum sein, in dem sich das kleine Kind geborgen, sicher und wohl fühlt, in dem Wärme, Achtsamkeit und Vertrauen geschenkt werden und sich Groß und Klein gleichermaßen entfalten können. Neben der warmen Farbgestaltung war es mir wichtig, viele Holzelemente und nachhaltige Produkte in den Raum zu integrieren.
Da die meisten Materialien im Kleinkindalter über den Mund erkundet werden, findet man bei mir Spielmaterialien, welche oft eine handschmeichelnde Haptik haben, alle Sinne anregen und frei von Schadstoffen sind. Viele Materialien beziehe ich von Herstellern, welche selbst in ihren Werkstätten in Deutschland produzieren. Dazu gehören auch Lebensgemeinschaften, in denen Menschen mit Assistenzbedarf leben, arbeiten und wunderschöne Produkte aus naturbelassenen Materialien in liebevoller Handarbeit erstellen.
Liebe Melanie, ich danke Dir für dieses interessante Interview!