Interview mit Nicole Plass

Nicole Plass ist seit einigen Jahren als Erzieherin im Waldorfkindergarten Damstadt e. V. beschäftigt. Neben der Ausbildung »Musiktherapie in psychosozialer Arbeit« an der Fachhochschule Hamburg hat sie die Ausbildung zur Erziehungsberaterin und Personal Coach/Psychologische Beratung an der SGD absolviert. Zurzeit studiert sie Heilpädagogik an der IU, welches sie dieses Jahr mit dem Bachelor abschließt. Nicole Plass ist Mutter von zwei erwachsenen Kindern.

Monika Reetz:

Liebe Nicole! Wir tauschen uns ja regelmäßig aus über Themen rund um die »Familienresilienz«.

Dabei kamen wir neulich auf den Begriff »Lebenssinn«. Der Sinn des Lebens – das ist ein ja sehr weites Feld und für viele Menschen ein großes Thema. Den Sinn des Lebens zu finden kann eine große Herausforderung darstellen und es gibt viele Impulse und Literatur dazu.

Umso spannender ist es, sich mit dem »Lebenssinn« zu beschäftigen. Dieser Begriff geht auf Rudolf Steiner zurück und prägt bis heute die Sicht von Waldorferzieherinnen auf Kinder. Auch für Eltern ist es sehr bereichernd, sich damit zu beschäftigen!

Wie würdest Du Lebenssinn erklären?

Nicole Plass:

Der Lebenssinn, der übrigens auch Vitalsinn genannt wird, gibt uns ein Gefühl für unser Allgemeinempfinden. Er wird uns bewusst, wenn Gefühle wie Hunger, Durst, Müdigkeit oder Schmerzen auftreten. Dann gerät dieser in »Schieflage«.

Das erleben wir Erzieher im Kindergarten natürlich täglich. Dieses erstmal unangenehme Gefühl ist aber eigentlich ein guter Hinweis für unseren Körper und unsere Seele und fordert uns auf, zu handeln. Das Kind lernt somit auf ganz gesunde Weise, was zum Wohlgefühl führt und was nicht. Dabei ist es wichtig, dass das Kind eigene Erfahrungen macht. Ein gesundes Erleben von zum Beispiel Hunger, Durst, Müdigkeit, Übermut und Schmerzen (in Maßen natürlich) ist damit wichtig, um einen gesunden Lebenssinn zu entwickeln.

Rudolf Steiner erklärt ihn so: sich als ein Ganzes innerlich zu fühlen, sich als einer innerlich geschlossenen, körperlichen Gesamtheit bewusst zu werden. (23. Oktober 1909)

Das bedeutet, dass laut seiner anthroposophischen Menschenkunde Körper, Seele und Geist eine Einheit bilden. Das Selbstempfinden wird als ganzheitliche Einheit gesehen. Nicht nur die körperliche Vollständigkeit ist damit gemeint, sondern auch das innere Ruhen. Dem Kind gibt der Lebenssinn die erste Vertrautheit mit dem Körper, Geborgenheit und eine Daseinsorientierung.

Wie genau entwickelt er sich gut?

Der Lebenssinn kann sich gut entwickeln, wenn wir als Erwachsene für ein gutes Wohlbefinden sorgen. Dazu gehört beim Säugling – neben der Geborgenheit und Liebe – eine wohlige Körpertemperatur, ein gesunder Schlaf und eine ausreichende Versorgung.

Mit zunehmendem Alter sollte ein rhythmischer Tagesablauf entstehen, welcher dem Kindheit Sicherheit gibt. Unangenehme Gefühle dürfen (dosiert und je nach Lebensalter) zugelassen werden und auch Krankheiten durchlebt und nicht durch schmerzstillende Mittel unterdrückt werden. Das Kind macht mit der Balance zwischen Mangel aushalten und Befriedigung erste Erfahrungen und kann den Lebenssinn so gut entwickeln. Gute Vorbilder sind dabei enorm wichtig. Dabei möchte ich gerade Eltern zum Ausprobieren ermutigen.

Mir gefällt der Begriff des »Durchbehaglichtseins« so gut! Wenn ich dieses Wort langsam spreche, fühle ich mich selbst gleich ganz warm, wohl und entspannt. Worauf sollte man bei Kindern achten?

Auf einen Zustand tiefen, umfassenden Wohlbefindens, in dem sich ein Kind sicher, geborgen, entspannt und emotional ausgeglichen fühlt. Nur so kann es sich frei entwickeln.

Wie stärkt ihr den Lebenssinn in der Arbeit mit Kindergartenkindern?

Im Waldorfkindergarten ist uns wichtig, eine warme und angenehme Atmosphäre zu schaffen. Die Räumlichkeiten sorgen mit der Einrichtung und den Spielsachen aus Naturmaterialien und den dazugehörigen sanften Farben für Behaglichkeit. Ebenso spielt die Haltung der Fachkräfte durch eine ruhige und abwartende Aufmerksamkeit eine bedeutende Rolle.

Der rhythmische Tagesablauf ist entscheidend, um den Kindern Sicherheit und Orientierung zu geben … und nicht nur der rhythmische Tagesablauf; der Jahreszeitenverlauf ist ebenso wichtig für die Kinder.

Außerdem ermutigen wir die Kinder, ihre Kräfte im Spiel zu erproben, auch wenn dabei die ein oder andere Herausforderung eintritt. Am Ende verleiht ihnen das Durchhaltevermögen Selbstwirksamkeit und Selbstvertrauen.

Was können Eltern tun – besonders Eltern von kleinen Kindern – um den Lebenssinn zu stärken?

Liebe und Geborgenheit sind das A und O in erster Linie. Wie schon so viele Eltern es heutzutage richtig machen, sollten die Babys viel getragen werden, damit sie die Nähe spüren. Kein Kind möchte nach neun Monaten im Mutterleib, allein im Bettchen liegen. Ich möchte Mütter dazu auffordern, sich auf ihre Mutterrolle einzulassen, diese zu genießen und damit eine ruhige Atmosphäre ohne Stress und Hektik zu schaffen. Dies wirkt sich erheblich auf das Urvertrauen aus.

Ich erlebe in meinem Religionsunterricht natürlich auch immer wieder Kinder mit einer deutlich wahrnehmbaren, körperlichen Unruhe – das muss, wenn ich nun an den Lebenssinn denke, nicht gleich ADHS sein …

Das stimmt. Tatsächlich fallen uns immer wieder Störungen des Lebenssinns auf. Um das Unwohlsein nicht spüren zu müssen, lenken sich Kinder, die einen nicht gut entwickelten Lebenssinn haben, oft ab. Sie fallen durch Reden, Unruhe, Hyperaktivität oder auch durch Ticks auf. Die Empfindungen können anders nicht unterdrückt werden.

Es gibt aber auch Kinder, die die Signale nicht wahrnehmen und dann in plötzlichen Situationen oft überwältigt werden und emotional ausbrechen. Gerade diese Kinder brauchen Hülle und Zuwendung … aber auch eine Struktur und Klarheit ist so wichtig. Sie müssen sich auf uns Erwachsene verlassen können. Ständige Maßregelungen überfordern sie.

Welche Bedeutung haben Rhythmus und Rituale im Alltag von Kindern?

In erster Linie geben Rhythmus und Rituale Sicherheit. Durch die wiederkehrenden Handlungen kann sich das Kind auf Situationen einstellen. Überraschungen und Unsicherheiten werden damit vermieden. Die Kinder entwickeln Vertrauen in ihre Umgebung und schaffen eine emotionale Verbindung zu den Ereignissen. Außerdem fördert es die Selbstständigkeit der Kinder, weil sie den nächsten Schritt schon wissen und sich entsprechend verhalten können. Rhythmische Abläufe und Rituale erleichtern auch uns als Erwachsene den Tagesablauf.

Liebe Nicole, vielen Dank für dieses interessante Interview!