Familienresilienz – Eine Annäherung aus gegebenem Anlass

Neulich wurde ich in meinem Lieblingscafe Zeugin eines Gespräches zwischen zwei Frauen. Auf die Frage, wie es ihrem Sohn denn nun gehe, in der fremden Stadt, mit dem neuen Job, antwortete die Frau mittleren Alters: „Danke gut! Der steht mit beiden Beinen mitten im Leben!“ Das klang überzeugt und authentisch, mit einer Prise Stolz und auch Erleichterung in der Stimme.

„Das ist ein schönes Bild!“, dachte ich. Er steht, mit beiden Beinen, also vermutlich recht stabil, sicher, aufrecht, schaut in das Leben, in dem er steht. Wer „mitten im Leben“ steht, ist in einer Art Fülle, hat vieles um sich herum, ist Teil dieser Fülle des Lebens. Das ist ein Grund zur Freude für Eltern, definitiv!

Menschen, die mit beiden Beinen im Leben stehen, könnte man auch als resilient bezeichnen

Im Idealfall sind dies Menschen, die zuversichtlich sind, flexibel mit verschiedenen Situationen umgehen können, lösungsorientiert nach Wegen aus Schwierigkeiten suchen, sozial integriert sind, Kontakte pflegen und Dinge, die unvermeidlich sind, akzeptieren können.

Eine Frau und ein Mann, die sich entscheiden, Eltern zu werden, verfolgen in der Regel das Ziel, dass ihre Kinder später einmal resilient in die Welt hinausziehen, ihr Leben „in die Hand nehmen“. Sie gründen eine Familie, und daraus entsteht ein neues, zunächst kleines, später vielleicht auch größeres „System“.

Stellen Sie sich dieses System einmal vor wie ein Oval, in der Mitte die Familienmitglieder und sie umgebend, gleichsam schützend, einen „Rahmen“. Innerhalb dieses Rahmens entstehen mit der Geburt eines Kindes persönlich-familiäre Rhythmen, Regeln, Abläufe, Strukturen des Alltags sowie der freien Zeiten. Diese sind von außen beobachtbar. Je älter das Kind/die Kinder werden, umso komplexer und vielschichtiger bilden sich die innerfamiliären Strukturen.
Eher im Verborgenen, auf einer tieferen Ebene, prägen Werte das Familienleben, wie z. B. Vertrauen, Empathie, Verantwortung, Sicherheit, Gelassenheit und Spiritualität.

Diese Werte beeinflussen die Qualität der Bindung, des Kontaktes der Familienmitglieder untereinander. Sie werden gewissermaßen „transportiert“, vermittelt über die verbale und nonverbale Kommunikation. Sie sind erfahrbar in den Regeln, Ritualen, Gewohnheiten und Vorlieben der Familie und gestalten diese zu einem ganz individuellen „System“.

Wie kann es Eltern gelingen, Kinder in ihrer Resilienz so zu stärken, dass sie „emotional gesund“ sind, „Herausforderungen mit Erfolg angehen und sich nach einem Rückschlag rasch wieder fangen“?

(R.Brooks,S.Goldstein: Das Resilienz-Buch. Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken.Stuttgart, 2007, S.26)
Anders gefragt: Was können Eltern tun, damit ihre Kinder mit „beiden Beinen im Leben stehen“?

Ich glaube, zum einen ist es ganz wesentlich, dass Eltern ihren Familien – Rahmen möglichst bewusst gestalten, zuweilen hinterfragen und dem Alter der Kinder gemäß verändern.

Zum anderen teile ich die Überzeugung von Brooks und Goldstein, zwei US – amerikanischen Professoren, die ein Buch zum Thema Resilienz-Stärkung in Familien geschrieben haben: Es wirkt sich auf die Resilienz der Kinder günstig aus, wenn das Bewusstsein für diese Resilienz das ganze gemeinsamen Leben mit unseren Kindern „durchwebt“ wie ein roter Faden, wie ein „Leitgedanke“ (ebd.,S.24).

Einer der für mich beeindruckendsten Sätze des ganzen Buches lautet: „Jede (!) Interaktion mit unseren Kindern ist für uns Eltern… eine Möglichkeit, ihnen zu innerer Stärke und Widerstandskraft zu verhelfen“. Dabei bilde die „Art des Umgangs“ den „Nährboden, auf dem der Same der Resilienz aufgeht und gedeiht.“ (S.24)

In der klinisch/therapeutischen Arbeit der Professoren mit vielen Familien haben sich über Jahre hinweg einige „Wegweiser“ herauskristallisiert, „mit deren Hilfe sich das Resilienzvermögen von Kindern steigern lässt“ (ebd., S.28). Dazu zählen u.a. Empathie, klare Kommunikation und aktives Zuhören, Wertschätzung und Akzeptanz der Individualität, Fehlerfreundlichkeit, Stärkung realistischer Erwartungen und Ziele, Stärkung der Kompetenzen und Ermutigungen.

Noch einmal zurück zu unserem Oval: Die Eltern selbst umgibt jeweils ein eigener, persönlicher „Resilienzrahmen“, und ihre Lebens-Kompetenzen geben sie im Laufe der Erziehung idealerweise an ihre Kinder weiter. Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sie gut für sich selbst sorgen, einen guten Zugang zu ihren Ressourcen pflegen und sich immer wieder an ihre eigenen Kraftquellen anschließen.

Innerhalb des Systems der Familie entsteht im Laufe der Jahre eine ganz persönliche „Dynamik der Resilienz“: Die Kraftquellen des Einzelnen können zu Kraftquellen für die ganze Familie werden, die Fähigkeit zur Akzeptanz kann der Akzeptanz aller dienen, die Zuversicht des Einzelnen kann zur Zuversicht aller werden! So kann, unter einem anderen Blickwinkel betrachtet, eine Krise oder persönliche Lebens-Herausforderung eines einzelnen Familienmitglieds aufgefangen werden durch die Kompetenzen und Widerstandskräfte der anderen Mitglieder und sie kann für alle zu einer Bereicherung werden, zu einer Entwicklungs-Chance.

Exkurs: Die Corona Krise – Familienresilienz im Ausnahmezustand

Zuweilen erlebt und durchlebt eine Familie Krisen, die man auch als „Störung des Systems“ bezeichnen könnte. Diese Störung kann mit einer Krise eines einzelnen Familienmitglieds zusammenhängen, oder sie kommt von außen, aus der unmittelbaren Umgebung der Familie, dem beruflichen Alltag, der Gesellschaft im weitesten Sinne. Dieses „Außen“ wiederum ist gleichsam der äußere Rahmen einer jeden Kernfamilie; hier finden sich alle sozialen Kontakte, die die Familie in die Gesellschaft hinein pflegt.

Eine Krise kann den Alltag und das Familienleben „auf den Kopf“ stellen und zum Wanken bringen. Die Sicherheit der Routinen des Alltags wird erschüttert, Gewohnheiten brechen weg. In solch einer Phase gewinnen einzelne Werte plötzlich sehr an Bedeutung, wie z.B. Lösungsorientierung und Zuversicht.

In der Corona Krise, genauer gesagt mit dem Lockdown im März 2020, wurden für Familien im Grunde von einem Tag auf den anderen alle wichtigen Beziehungen zur „Außenwelt“ gekappt: Kindern war der Besuch von Kitas, Schulen, Vereinen, Freizeiteinrichtungen, Musikunterricht sowie der Kontakt zu Freunden und sogar Großeltern untersagt. Für viele Eltern war die Ausübung des Berufes kaum noch möglich, Vieles musste online passieren, ein Homeoffice eingerichtet werden.

Was bedeutet das, wenn man auf das System Familie und die Familienresilienz schaut?

Familien werden ohne Übergang, ohne Vorbereitung komplett auf sich selbst zurückgeworfen, auf ihre eigenen, inneren Strukturen, in den oben beschriebenen Rahmen, der plötzlich zu einer Art „Schutzwall“ vor dem Virus wird. Jegliche Orientierung „nach draußen“ fällt weg, der Blick wendet sich nach innen, und die Stunde der Resilienzkräfte bricht an:

Zuallererst ist dann Akzeptanz gefragt, radikale Akzeptanz einer Situation, die in dieser Weise noch nie da gewesen ist! Neben der Akzeptanz werden die Flexibilität, die Zuversicht sowie die Lösungsorientierung als Säulen der Resilienz von allen Familienmitgliedern gleichermaßen hoch beansprucht.

Die innenfamiliären Strukturen müssen sich völlig neu ordnen, denn der rhythmus-gebende Alltag ist verschwunden. Viele Werte, die zu normalen Zeiten wünschenswerte Begleiter des Familienalltags sind, werden mit einem Mal überaus wichtig, wie z.B. Vertrauen, Empathie, Gelassenheit, Stressmanagement, Zusammenhalt, Sicherheit, oder die Pflege von Ritualen. Durch den Wegfall der Kontaktpflege, der Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen sowie der Besuche jeglicher Freizeiteinrichtungen, brechen auch Kraftquellen weg.

Die Aktivierung der Ressourcen, die es der Familie ermöglicht, solch eine Krise zu meistern, speist sich aus den Resilienzkräften der Erwachsenen, aber durchaus auch aus denen der Kinder.
So haben Kinder häufig eine beeindruckende Gabe, Veränderungen zu akzeptieren und damit umzugehen. Allein dies kann als Kraftimpuls wieder zu den Eltern zurückfließen. Hier kann eine Art „Wechselspiel der Resilienzkräfte“ entstehen. Wichtig ist allerdings, dass die Eltern immer die Verantwortung für die Resilienz der Familie tragen. Sie dürfen sich nie auf die Resilienz ihrer Kinder verlassen. Kinder brauchen immer die grundlegende Haltung der Zuversicht, das tiefe „Ja!“ zum Leben! Darauf haben sie gewissermaßen einen Anspruch, auch wenn es Eltern unter Umständen sehr viel abverlangt, dem Anspruch gerecht zu werden.

Die Corona Krise ist noch nicht vorbei, wir alle hoffen wieder auf das, was wir unter „Normalität“ verstehen! Mir war es wichtig, einen Überblick über das komplexe System Familie und ihrer Resilienz zu geben sowie über die sehr dynamischen Wechselbeziehungen. Für Familien war und ist diese Zeit eine große Herausforderung, ein Resilienztraining der besonderen Art. Darin mit „beiden Beinen im Leben“ stehen zu bleiben, ist eine Leistung, die echten Respekt verdient!